AM8 – Brief an Walter Gropius
Toblach, Montag, 25. Juli 1910
[Postskriptum:] Die Briefe von jetzt ab wieder A. M. 40[,] Toblach Tirol[.]
Montag
Du – über alles geliebter Mensch! Ich brauch’ Dich so! – Aber ich bin selig, dass ich auch Deinen Menschen brauche – nicht nur den Geliebten. Die lieben Rosen habe ich geküsst – hattest Du es \auch/ vorher gethan? – Ich bitte Dich – lass Dich photographiren und schick’ mir das Bild sofort – ich muss Deine
süßen Züge wieder sehen – und schick’ mir etwas, das Du geküsst hast . . . .
Ich liebe Dich! – Ich habe Dir diese 3 Worte – nur ein Mal[,] glaube ich – gesagt – und beim Schreiben will mir nichts anderes in die Feder! Es ist viel leichter über Heiligstes zu schreiben – als Du zu sprechen. Da man nicht gewöhnt ist, mit hohen Worten zu sprechen – fürchtet man, dass sie phrasenhaft klingen[,] und lauscht dem noch lange nach – den Ton auf seine Echtheit prüfend . . . .
Überhaupt – was liegt nicht alles in dem Schweigen nach einem bedeutungsvollen Wort. Wellen von „Ja“ und „Nein“. Hast Du das auch schon gefühlt. – Man horcht in die Seele des Andern und glaubt[,] verstanden und sofort darauf wieder nicht verstanden zu sein. Bei Dir habe ich immer das Gefühl des vollkommenen Verstandenwerdens gefunden. –
So – absolut bist Du mein Mensch – wie ich der Deine
[Postskriptum:] Schick’ mir die Briefe wieder! –
bin. – Ich wünsche mir nichts anderes, als ganz in Dir aufzugehen. Erst dann ist vollstes Glück, wenn man vergisst, sich zu bewahren.
— Niemand hat je mein ganzes Ich so ausgebreitet vor sich liegen sehen – wie Du – ! Könntest Du doch hier sein – es ist so gottvoll schön hier – das liebe Haus – wäre es nicht möglich, dass wir – WiR – WiR das einmal zusammen bewohnen würden? Mit unserm zu werdenden Kinde.
Deine
Montag nachmittag
Lieb – ich habe Dir noch nichts über die Bilder Deiner Familie gesagt. – Das letzte Bild Deiner u. d. letzte Deiner – das sind wunderliebe Bilder. – Ich behalte sie, sowie Dein Kind[-] und Knabenbild und den Kornspeicher – der mir sehr gefällt – die Bilder[,] die mir nichts oder – weniger sagen – schicke ich Dir zurück. Ich finde in Deiner fast alle zu Deine
Züge wieder – Du kannst unmöglich viel von Deinem haben. Deine hat ein liebes Gesicht auf einem herrlichen Hals und Nacken. – Warum ist der Mund immer offen? Ist die Oberlippe kurz? Deine ist voll Noblesse – ich möchte wissen – ob ich je das Gefühl von Distanz ihr gegenüber überwinden würde – und je – Seele an Seele kommen könnte. Doch da ihre Augen voll Güte sind, wird auch das gelingen! – Alle diese lieben Menschen sind mir durch die Bilder schon nicht mehr fremd. Ich danke Dir! —
Die Nase hast Du und Deine von Eurer – woher habt Ihr Beide diese Märchenaugen!? Auch von ihr? Ich will einen Buben mit Allem von Dir –, die schönen Haare – die Ihr alle habt[.] – Ja[,] mein Lieb – ich thue alles, um recht
gesund zu sein und würdig! Dich zu empfangen. – Wie wollen wir unsern Schatz dann hüten – ich verspreche Dir – dann nur dafür zu leben. –
Du mein, mein [.]
Apparat
Überlieferung
, , , , , , , .
Quellenbeschreibung
4 Bl. (8 b. S.) – Briefpapier mit dunkelblauem Monogramm (Zum Material von Alma Mahler) aus den stilisierten Initialen AMs in Prägedruck (, ); Blattzählung (Editionsrichtlinien) (, , , ).
Beilagen
Umschlag, , – Herrn Walter Gropius | Neubabelsberg bei | Berlin | Stahnsdorferstr. 83. –; PSt. (lt. , S. 531, Nr. 112): TOB[LACH] [2] | [Tag] | [Monat] | [Uhrzeit] | [Jahr] | c; eine von zwei Briefmarken fehlt, daher Stempel unvollständig, Höhe des Portos in der Handschrift von AM, wahrscheinlich als Information für einen Boten: 20 [Heller]; fremdschr. Datierungsversuch nach Übergabe an : „Ende Juli (1910) H.L.G. (? - 08.1911 SB) | Toblach … (vor 1.10?)“.
Druck
Erstveröffentlichung.
Korrespondenzstellen
Antwort auf WG10 vom 20. Juli 1910 (Jetzt fühle ich so stark wie nie, was ein gutes Elternhaus bedeutet. Kenntest Du es nur erst, Du verstündest mich dann noch besser. Fotos!): Lieb – ich habe Dir noch nichts über die Bilder Deiner Familie gesagt und WG15 vom 23. Juli 1910 (lege diese Rosenblätter in Deine \lieben/ Hände): Die lieben Rosen habe ich geküsst. Beantwortet durch WG20 vom 27. bis 31. Juli 1910 (es ist viel leichter über Heiligstes zu schreiben als zu reden?): Es ist viel leichter über Heiligstes zu schreiben – als […] zu sprechen, WG21 vom 27. bis 31. Juli 1910 (Ein Bild von mir willst Du bald haben): lass dich photographiren und WG22 vom 27. oder 28. Juli 1910 (Das ### mir so lieb, daß Du auch meinen Menschen brauchst nicht nur meine Umarmungen): Ich brauch’ Dich so! – Aber ich bin selig, dass ich auch Deinen Menschen brauche – nicht nur den Geliebten.
Datierung
Poststempel: Durch die abgelöste rechte von zwei Briefmarken sind fast alle Teile des Poststempels nicht erhalten.
Das aus dem Briefentwurf WG15 vom 23. Juli 1910 entstandene Schreiben wurde von AM wahrscheinlich am Montag, 25. Juli in Toblach empfangen und durch den vorliegenden Brief AM8 am selben Tag beantwortet.
Themenkommentar
Übertragung/Mitarbeit
(Marie Apitz)
(Jannik Franz)
A. M. 40 – WG5 vom 17. Juli 1910.
Rosen – s. WG15 vom 23. Juli 1910: Rosenblätter.
Schick’ mir die Briefe wieder! – unklar, welche Briefe gemeint sein könnten.
WiR – WiR – kalligrafische Schrift, s. Zitat von in AM14 vom 8. August 1910.
Bilder Deiner Familie – s. WG10 vom 20. Juli 1910: Fotos!
Bild Deiner Mutter – Sammlung , Cod.Ser.n. 41.305-16.
Dein Kind[-] und Knabenbild – Sammlung , Cod.Ser.n. 41.305-3 und 4.
Kornspeicher – Sammlung , , s. auch Themenkommentar: Der Kornspeicher in Janikow.
Deine Schwester […] Oberlippe kurz – Diese physiognomische Eigenart ist auf dem Foto in der Sammlung , gut erkennbar (siehe ).